Nachfolgend versuche ich, ein paar Fakten, Zahlen, Fragen und allgemeine Zusammenhänge über die Paktika-Provinz und deren Menschen aufzuschreiben. Alles Dinge, die mir im Laufe der letzten 3 Wochen über den Weg gelaufen sind, Fragen die ich selbst gestellt, oder auch nicht gestellt habe – einfach ein kleines bisschen Wissen, dass vielleicht hilft diesen Teil der Welt ein bisschen mehr zu verstehen. Natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Es sind alles Sachen, die ich vorher nicht wusste und von denen ich persönlich glaube, dass es ganz gut ist sie zu wissen, wenn man sich mit dieser Region Afghanistans beschäftigt.
Paktika ist eine der südöstlichen Provinzen Afghanistans. Etwa 19.500 Quadratkilometer gross mit einer Bevölkerung von über 800.000 Menschen (offizielle Schätzung), auf einer Meereshöhe von 1500 – 4500 Metern. Grösstenteils ist hier die Volksgruppe der Paschtunen heimisch (eine kleine Minderheit sind Tajiken – also ist die Sprache zur Verständigung Paschtu und nicht Dari wie es zum Beispiel in der Region um Kabul im Norden gesprochen wird – beide Sprachen haben nichts miteiander zu tun). Ein Paschtu-Sprechender kann kein Dari verstehen und umgekehrt. Paktika ist aufgeteilt in 19 Distrikte (wir waren im Distrikt Sar Howza) sagt die Zentralregierung in Kabul, die Regierung der Provinz Paktika sagt es sind 23 Provinzen – was die Administration z.B. bei der Verteilung von Geldern für Schulen etc. ungemein erschwert. Beide beharren auf ihrem Standpunkt. Die beiden grössten Städte sind Sharana, die Hauptstadt der Provinz (55.000 Einwohner) und Orgun (90.000 Einwohner)
Entscheidungen oder Beschlüsse in der Provinz fassen in Afghanistan traditionell die Stammesältesten der Stämme der Paschtunen ( es gibt derer 5) – jeder Einwohner ist zuerst seinem Stamm verpflichtet alle anderen Institutionen sind zweitrangig oder werden komplett ignoriert. Niemand fühlt sich der Zentralregierung in Kabul verpflichtet. Geht es nach den Einwohnern, würde jeder Stamm ein eignes Autonomiegebiet bekommen. Das Prinzip einer Staatsform nach westlichem Masstab, als eine Zentralregierung und Demokratie stossen hier höchstens auf Unverständnis. Die Stämme sind allerdings teilweise auch untereinander verfeindet.
Die Paschtunen gelten als sehr konservativ, streng religiös und sind gebunden an die vier Grundregeln des “paschtunwali”, des paschtunischen Ehrenkodex:
Ehre: Alle Paschtunen sind gezwungen, die Ehre ihrer Familie und des Stammes zu mehren und zu verteidigen. Ein Verstoss dagegen kann die Rache (den vierten Kodex nach sich ziehen). Die grössten Streiteren haben Frauen, Land und Geld als Ursache (da hingegen sind sie sehr westlich). Ein Paschtune muss diese drei Dinge mit Leben und Ehre verteidigen.
Gastfreundschaft: Paschtunen sind bekannt für ihre grosse Gastfreundschaft. und behandeln ihre Gäste mit Ehre und Respekt. Viele Dörfer und grosse Familien haben eigene Gästehäuser. Auch bei niedrigem Einkommen oder limitierten Ressourcen wird jeder Fremde immer willkommen geheissen, es wird ihm zu Essen gegeben und er bekommt einen Schlafplatz. Das gilt auch für Nicht-Paschtunen.
Vergebung: Hat ein Paschtune ein Unrecht oder ein Verbrechen begangen ist es ihm erlaubt dieses selbst Anzuzeigen und um Vergebung zu bitten. Es werden Geschenke gemacht, die die die Vergangenheit vergessen machen sollen. Demjenigen dem der Schaden zugefügt worden ist entscheidet ob er das Angebot annimmt. Häufig wir eine solche Lösung von Frauen arrangiert – die Frauen gelten bei den Paschtunen als Friedensstifter.
Rache: Paschtunen können für ein erlittenes Unrecht Rache nehmen indem das gleiche Unrecht an dem begangen wird, der es zuvor verübt hat. Dabei kann das Unrecht durchaus Jahrzehnte in der Vergangenheit liegen. Es existiert also auch die Blutrache als legitime Form. Tötet z.B. ein Paschtune den Bruder eines anderen Paschtunen, darf dieser unbekehrt auch den Bruder des Täters töten.
Nicht nur in Paktika sondern in ganz Afghanistan gibt es drei verschiedene Sicherheitskräfte.
1 – die AUP (Afghan Uniformed Police) – gilt als korrupt und ist bei der Bevölkerung nicht akzeptiert. Ein Monatslohn liegt bei etwa 200 Dollar. Um das Gehalt zu verbessern, sich selbst nicht in Gefahr zu bringen oder die eigene Familie zu schützen sind viele Polizisten auf einem Auge blind für die Aktivitäten der Aufständischen oder von Kriminellen. Der Posten eines Distrikt-Polizeichefs ist mit 100.000 Dollar käuflich.Das Geld dazu wird mit Entführung, Raub und Schmuggel erwirtschaftet.
2- die ANBP (Afghan Border Police) – existiert nur in Provinzen mit Grenzen zu anderen Ländern. Sie ist schlecht ausgestattet und wird von der Zentralregierung quasi ignoriert. Die ANBP gilt ebenfalls als korrupt und mit besten Verbindungen zu Schmugglern. Oftmals ist ein Familienmitglied bei der ANBP während ein anderes Familienmitglied professionellen Grenzschmuggel betreibt und man sich so gegenseitig unterstützen kann.
3 – die ANA (Afghan National Arm) – hat als einzige Sicherheitskraft eine gute Reputation (zumindest in der Provinz Praktika). In ihr hat man erfolgreich Soldaten aller ethnischen Gruppen integriert und sie gilt als dazu in der Lage Angriffe von Aufständischen zu beherrschen. Leider ist die Truppenstärke noch in keiner Weise ausreichend.
Paktika ist die ärmste Provinz des zweitärmsten Landes der Welt (Afghanistan), man kann sich daher die Lebensbedingungen in krassen Farben ausmalen. Nur 25% der Bevölkerung hat sauberes Trinkwasser, 66% der Menschen leben von der Landwirtschaft, insgesamt 84% der Menschen haben mehrmals im Jahr nicht genug zu essen, 42% gelten als unterernährt.
Nur 1% der Bevölkerung Paktikas hat Zugriff auf Strom, bis auf die Städte Sharana und Organ gibt es kein Handynetz, aber fast alle Familien haben Zugriff auf ein Handy was sich oft untereinander geliehen wird um von einem Ort mit Empfang aus zu telefonieren. In den Abendstunden wird das Netz vollständig abgeschaltet, da die Taliban befürchten, dass die internationelane Streitkräfte über das Netz die Standorte der Kämpfer ausfindig machen können – die Telekommunikationsfirmen wurden entsprechend bedroht und beugen sich dem Druck!
Bis 2006 gab es in der gesamten Provinz nicht eine einzige asphaltierte Strasse.Die US-Armee hat 2008 die erste Asphaltierte Strasse zwischen Sharana und Orgun fertiggstellt.
Die Hauptinformationsquelle in Paktika ist das Radio – die meisten Haushalte haben Zugriff auf eins. Es gibt mehrere lokale Sender, aufgrund von fehlendem Strom gibt es fast keine Fernseher, Zeitungen oder andere Printmedien gibt es nicht, da die Analphabeten-Rate bei knapp 90% liegt.
Eine weitere wichtige Informationsquelle sind die Moscheen – deren Mullahs gelten bei der Bevölkerung als glaubwürdig. Sowohl die Taliban als auch die Coalition Forces versuchen mit einer Einflussnahme auf die Mullahs Stimmung für sich zu achen.
Als letztes – ohne langweilig werden zu wollen – die ganz grosse Frage: Wer oder was sind die Taliban? Wie schlüsselt sich das auf? Was hat das mit al Quaida, was mit den Aufständischen zu tun.
Zuerst mal – das sind alles unterschiedliche Gruppen – alle zusammengefasst unter dem Begriff “Insurgents” (Aufständische). Listen wir sie doch einmal:
Das Haqqani-Netzwerk:
Hochaktives Netzwerk, von Pakistan aus operierend. Angeblich kann Haqqani in 90% von Paktika einer Person Sicherheit garantieren. Verantwortlich für viele Anschläge in Kabul. Verbunden mit Al-Quaida und den Taliban. Haqqani kann man aber auch wie ein Franchise Unternehmen für Terrorismus sehen.
Die Mansur-Gruppe:
Ehemaliger Haqqani-Kommandant, befehligt eine selbständige Gruppe in der Gegend Sar Howsa.
Pakistanische Jihad-Gruppen: Befürworter des heiligen Kriegs – von Pakistan aus in der Gegend von Sar Howsa, Sharana und Orgun operierend. Richten ihre Attacken nicht nur gegen Coalition Forces (IED-Anschläge, Raketenangriffe) sondern widmen sich auch der Zerstörung möglichst vieler öffentlicher Einrichtungen und infrastrukturellen Punkten wie Brücken, Strassen etc.
HIG-Gruppe: (Hezb-e.Islami-Gulbuddin):
Zur Zeiten des Sowjet-Krieges gebildete Gruppe mit grossem Machteinfluss in Paktika – sieht sich selbst als Konkurrenz zum Haqqani-Netzwerk, kämpft aber auch gegen alle ausländischen Streitkräfte.
Taliban – gewalttätige Aktivisten die als einziges Ziel die Vertreibung der ausländischen Streitkräfte haben um den Gottesstaat Afghanistan wieder nach der islamischen Scharia aufzubauen. Religiöse Fanatiker – im Gegensatz zu anderen Gruppen nicht an überregionalen Attacken (Terrorismus in anderen Ländern) interessiert – haben sich von al Quaida losgesagt.
al Quaida – Terrororganisation die international operiert und nicht nur Ziele in Afghanistan verfolgt. Logistische Organisation von allen Aufständischen (mit Ausnahme der Taliban). Al Quaida trainiert die Kämpfer der anderen Gruppen, besorgt Material und stellt auch Selbstmordattentäter.
Ganz schön komplex, oder? Und das ist erst die Spitze des Eisberges. Hinzu kommt die Aufsplitterung der o.g. Gruppen und deren interne Interessenkonflikte (bedingt z.B. durch die Stammeszugehörigkeit der Aktivisten, deren Verbindungen zum Drogenanbau und Schmuggel, sowie deren Verbindungen zu regionalen Stammesfürten und Warlords). Selbst nach ganz vielen Erklärungen die ich bekommen habe, habe ich selbst viele Details immer noch nicht verstanden. Ich habe es aber mal soweit als möglich aufgeschrieben umd damit die komplexe und auch frustrierende Situation für alle Menschen in der Provinz Paktika etwas zu verdeutlichen. Hoffentlich ist das zumindest ein bisschen gelungen …