Der gestrige Abend bescherte uns die Möglichkeit kurzfristig heute morgen mit einer Kompanie eines Aufklärungsbatallions rauszufahren. Der Auftrag dieser Kompanie wird mir nicht ganz klar – sie fahren mit Spähpanzern vom Typ „Fennek“ die Gegend um den OP-North ab, wollen dabei einen Stützpunkt von US-Truppen besuchen und auch einige Posten der Afghanischen Polizei anfahren.
Die vorherige Besprechung definiert die Fahrreihenfolge der Fahrzeuge, Verhalten bei Beschuss, Verhalten bei Ausfall eines Fahrzeugs, Verhalten bei den Amerikanern, Verhalten im Notfall, Verhalten beim Aussteigen etc. – was man sich eben so alles merken sollte wenn man eine Spritztour mit Militärfahrzeugen durch die afghanische Provinz Baghlan macht.
Wir fahren über zumeist unbefestigte Strassen vorbei an Feldern, abgelegenen Siedlungen und durch teils hügeliges und unwegsames Gelände als erstes einen Stützpunkt der Amerikaner an. Denen sei nicht gesagt worden, dass Journalisten dabei sind, wir sollten also am besten in den Fahrzeugen sitzen bleiben. Irgendwelche Fotos und Interviews sind verboten und hätten den Abbruch der Patrouille zur Folge.
Na gut – Spielregel ist Spielregel und nach 1,5 Stunden warten geht es mit den Fahrzeugen wieder weiter durch die afghanische Landschaft. Nach einer weiteren Stunde fahrt halten wir an einer ziemlich verfallenen grossen Lehmsiedlung. Dies ist ein geplantes und nur zum Teil fertiggestelltes provisorisches Flüchtlingslager – angeblich für mehr als 20.000 Menschen. Warum hier allerdings nur einige hundert Afghanen leben, warum ein so grosses Camp gebaut wurde und aus was für einem Grund mitten in der Nordprovinz überhaupt ein Flüchtlingslager geplant wird. All diese Fragen kann uns niemand beantworten.
Die Soldaten verlassen die Fahrzeuge und innerhalb weniger Minuten werden sie von Kindern umringt, die relativ zielstrebig Geschenke fordern. Einge Kugelschreiber und Schlüsselbänder werden verteilt – und finden reissenden Absatz. Die Szene hat aber nichts vom „freundlichen Verteilen kleiner Geschenke“ sondern wirkt aggressiv. Die Kinder prügeln sich untereinander um die Kleinigkeiten und die Soldaten wirken gegenüber den Kindern ein wenig hilflos. Ein afghanischer Polizist wirft ein paar Steine auf die Kinder um sie bei deren deren allzu aufdringliche Forderungen einzuschüchtern.
Aber – Fussball verbindet. Oder klappt das auch nicht? In einem der Panzer haben die Soldaten einen Fussball für die Kinder mitgebracht. Es geht aber nicht um das gemeinsame Spiel – sondern jeder der Kinder will ihn haben und für sich behalten. Dabei regiert das Faustrecht. Und auch ein älterer afghanischer Mann, der die Kinder zum Spielen animiert scheitert. Der Schlaueste erkämpft sich den Ball, klemmt ihn sich unter den Arm und läuft so schnell wie möglich davon. Hier geht es nicht um Spielen und um gemeinsamen Spass – nur der Besitz des Balls zählt. Ein ernüchterndes Schauspiel – und eine gescheiterte Initative von „Fussball zur Verständigung“.
Einige afghanische Polizisten versuchen mittels Übersetzer den Soldaten der Bundeswehr ein Bild der Lage zu geben. Es werden scheinbar wichtige Informationen ausgetauscht, man versichert sich gegenseitig weiter gute Zusammenarbeit und der Fahrzeugkonvoi der Bundeswehr macht sich wieder auf den Weg.
Vorbei an Schafhirten und Mopedfahrern geht es entlang eines kleinen Flusses. Das die Einheimischen trotz knapper Wasservorkommen ihre Autos mitten im Fluss waschen scheint niemanden zu stören – viielleicht ist das europäische Umweltbewusstsein aber auch zu hysterisch. Es geht weiter durch eine grössere Stadt in der deutlich wird, wie sinnvoll eine Müllabfuhr sein kann – überall türmen sich Abfälle. Es sieht schlimm aus – und die angeblich vom Lebensstandard so viel besseren Nordprovinzen dieses Landes unterscheiden sich in meinen Augen überhaupt nicht von den von mir vormals besuchten armen Ostprovinzen. Es ist dreckig, staubig, es stinkt nach Fäkalien und ich frage mich die ganze Zeit, wie man es schaffen kann so ein Land auch nur ansatzweise aufzubauen.
Es geht zurück in den OP-North, den wir morgen per Hubschrauber wieder Richtung Masar-i-Scharif verlassen werden. Eine letzte Nacht frieren im Zelt. Aber verglichen mit den Lebensumständen die ich am heutigen Tag gesehen habe darf ich mich über die Zeltübernachtung auf keinen Fall beschweren. Das Zelt ist sauber, es gibt eine Dusche und eine Toilette und eine Küche die in regelmässigen Abständen warme Mahlzeiten serviert. Das ist deutlich mehr als das was die Menschen haben in deren Leben ich einen winzig kleinen Einblick bekommen habe.